Unter dem Pflaster liegt der Strand

Menschen im Aufbruch - eine changeX-Serie | Folge 26 |

Von Anja Dilk

Viele Dampfplauderer in Politik und Medien reden von Wandel und Veränderung. Doch Land und Leute fühlen sich wie im Schraubstock. Kein Vor und Zurück. Nicht überall. In den Nischen und Zwischenräumen, im Verborgenen und abseits des tumben Mainstreams kommt frischer Wind auf. changeX-Autoren haben sich auf die Suche nach Menschen gemacht, deren Verständnis von Wirtschaft und Arbeit konstruktiv anders ist. Die Alternativen vorleben und nicht mit den Wölfen heulen. Heute: Jochen Holtrup bringt zusammen, was bislang als unvereinbar galt: Konsum und Charity. In seinem Online-Shop Careflower präsentiert der Unternehmer ausgewählte Trendprodukte zum handelsüblichen Verkaufspreis, verzichtet gemeinsam mit den Produktpartnern auf Handelsgewinne und wandelt diese in Spendengelder um.

Illustration von Limo LechnerIrgendwann nach der Jahrtausendwende kam Jochen Holtrup dem Kern seines Ichs auf die Spur: Nicht Status und Karriere, nicht glänzende Visitenkarten, tönende Titel und polyglottes Leben sind das, was ich will. Nein, ich möchte die Welt verändern. Möchte wagen, dieses große Wort in den Mund zu nehmen und im Kleinen anzupacken. Möchte, jenseits von Allmachtsphantasien und Gutmenschtum, einfach etwas tun, egal, ob es gelingt oder nicht. Aber was?
Möbus-Turnschuh Modell Tempo, 79 Euro. Roomsafari-Obstschiene railway, 32 Euro. Yokozuna-Milchtütenradio zwölf Euro. Verwaschenes Pink und Orange und Rot umspielen die Auslagen in den Schaufenstern des Onlineshops. Türkise Palmen, rosa getönte Säulen, Stahlträger, Blumen. Ein Hauch von Seventies krallt sich in den High-Tech-Modernismus des neuen Jahrtausends. Die Oberfläche führt den Blick an den rechten Bildschirmrand. Sozialarbeit in São Paulo, Flüchtlinge in Kolumbien, Kinder mit seltenen Erkrankungen. Trendstore und Spendenaufruf - wie passt das zusammen? Klick. Die Startseite poppt auf. "Wir glauben an die Kraft der Versöhnung und bringen zusammen, was bislang als unvereinbar galt: Shopping und Charity - Careflower." Die Idee: Trendware mit eingebautem Spendenanteil.
Keinen Cent teurer als im Laden und doch zugunsten sozialer Projekte. Der Weg: Statt die üblichen Handelsgewinne in die eigene Tasche zu schaufeln, fließen sie als Spende zu ausgewählten Hilfsorganisationen. Wer bei Careflower den Möbus-Turnschuh kauft, spendet so automatisch 41 Euro, bei der Obstschiene fallen 15,95 Euro ab, vom Milchtütenradio 4,95 Euro. Und: Mit einem Klick kann der Käufer selbst entscheiden, in welches Charity-Projekt das Geld fließen soll. Jochen Holtrup strahlt: "Wir setzen an der größten Macht der Welt an: der Kauflust der Frauen. Stellen Sie sich vor, eine Frau kommt nach Hause und sagt: 'Hallo Schatz, ich war spenden', und packt ihr neues Paar Schuhe aus."

Wegrennen als Lebensmotiv.

Berlin-West, ein paar hundert Meter vom Ku'damm entfernt. Im Café L'Art klappern die Kaffeetassen. Dampfend schießt Latte macchiato in die Gläser, zwei Damen mit prallen Einkaufstüten haben sich am Nebentisch zur Rast gesetzt. Jochen Holtrup, Seitenscheitel, Koteletten, brauner Nadelstreifenanzug, nippt an seinem Pfefferminztee. Die Worte sprudeln aus seinem Mund, zerreiben Punkte und Pausen. Bübisches Lächeln, rascher Blick. "Ähm, nein" zerschneidet immer wieder seine Sätze, wenn er erzählt, so unprätentiös und handfest und bodenständig, wie es nur einer tun kann, der aus "dem Ruhrpott kommt" und obendrein zum ersten Mal mit der Presse plaudert, neugierig und entwaffnend vertrauensvoll: von seiner wilden, rebellischen Kindheit im Ruhrgebiet, in Werne an der Lippe. Von seiner Jugend im Internat, dem bischöflich katholischen Knabenkonvikt Collegium Johanneum Schloss Loburg, in das ihn seine ratlosen Eltern schickten. Von den Tagen voller Drill, fünf Uhr aufstehen, Morgengebet, ein Lauf durch den Schnee, Schule, Gebete. Von den Priestern, die seinen Willen brechen wollten, um ihn in die Gemeinschaft einzugliedern, die ihn zu fördern vorgaben, aber nie seine Interessen dabei im Blick hatten. Von der Haste-was-dann-biste-was-Ideologie, die zum Internatsalltag gehörte und ihm, dem Kind der 80er Jahre, von allen Ecken eingebläut wurde. Von seiner Sehnsucht nach fremden Ländern, die er mit Karl May kennen lernte und schließlich nach seiner Hotelfachlehre selbst entdeckte. Von seiner Zeit in Kanada, wohin er seiner damaligen Freundin folgte, und, nach der Trennung, den Monaten als Stewart auf dem letzten Atlantikliner Queen Elisabeth II. Panama, Afrika, Hongkong. Doch überall blieb er Besucher, Reisender, letztlich allein.
In der Rückschau sagt er: "Wegrennen war lange mein Lebensmotiv. Erst durch die Reisen, später durch übertriebene Arbeit." Denn als Holtrup Mitte 20 erkennt: Weggehen hilft nicht, schon gar nicht, wenn man das Erlebte nicht mit jemandem teilen kann. Weggehen ist nicht nötig, denn Deutschland hat so viel mehr zu bieten als viele Orte der Welt. Da stürzt er sich in die nächste Flucht: Job. Er will es den Freunden aus der Schulzeit gleichtun, will Karriere machen, aufholen. Der Hotelfachmann Holtrup eröffnet eine Cocktailbar, verdreifacht die Umsätze. Er profitiert von seinem Talent als Entertainer, von seiner Überzeugungskraft, seiner bedingungslosen Arbeitsbereitschaft. Und zerbricht fast an dem Leben in der Nacht. "Ich wollte endlich mal wieder den Tag sehen."
Holtrup setzt auf Systemgastronomie, Managementtraining bei Pizza Hut, der Titel lockt ihn ebenso wie die Aufstiegschancen im Konzern. Er weiß: Hier finde ich Bestätigung, unendlich wichtig für ein Selbstwertgefühl. Natürlich ist er höchst erfolgreich, dreht sich wieder so in die Arbeit, dass er sich selbst zu verlieren droht. Beziehungen haben keine Chance, sein Körper rebelliert. Nach 36 Stunden Inventur im Kühlraum bricht Holtrup mit 27 Jahren zusammen.

Wunsch: Welt verändern.

Jochen Holtrup zündet sich eine Zigarette an, fährt sich durch die Haare. Es war eine harte Zeit. Auch wenn er in psychosomatischer Behandlung endlich erkannte: So geht es nicht weiter, ich brauche meine Arbeit nicht, um ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Ich muss mir nicht fremde Träume von Erfolg und Status erfüllen, um an mich glauben zu können. Aber noch einmal knickt er ein, fällt in alte Muster zurück, arbeitet sich halb tot beim Gastrounternehmen Mitropa. Bis er in einer neuen Partnerschaft erkennt: Schutzschilder können Barrieren zur Welt sein, das Mäntelchen des unantastbaren Alleskönners führt in die Sackgasse. Offenheit ist der Weg zu sich selbst und denen, die dir lieb sind. Damals findet Jochen Holtrup zu sich und seinem Wunsch: Die Welt verändern.
Dann fällt sein Blick auf die Blumenkette neben seinem Fernseher. Eine dieser markig bunten Blumengirlanden, die Touristen in Hawaii um den Hals gelegt werden. Jochen Holtrup kommt die Idee: Das wäre ein schöner Schnickschnack zur Dekoration von Computer und TV. Gerade jetzt, in der Zeit des erwachenden Internets, gibt es reichlich Bedarf. Wer mag schon die eierschalfarbenen Kisten, die klotzig auf jedem Schreibtisch stehen? Bei einem bierseligen Abend mit zwei alten Kumpels, dem Designer Lars Swenzitzki und dem Unternehmensberater Christian Kamper, wird die vage Idee zu einem konkreten Geschäftsmodell. Kurz darauf ist der Hawaiikranz durchgeschnitten, mit Befestigungshäkchen versehen und unter dem Namen "Screenflower" als "Gebrauchsmuster" angemeldet. Die Freunde lassen Screenflower in sechs Farben herstellen und verticken sie mit einem gelungenen Schuss Zeitgeist online. Erfolgreich. Doch eines Tages sind Hawaiikränze überall für ein paar Cent zu haben.
Jochen Holtrup hat eine neue Idee: "Warum spenden wir nicht den Erlös aus dem Projekt?" Holtrup recherchiert - und stößt auf eine Spendenlandschaft, verstaubt und satt, die bei Anfragen jeden abblockt, der wissen will: Wohin fließen unsere Spenden eigentlich? Holtrup macht kleine Projekte ausfindig, die anders vorgehen, die offen sind und ihn berühren mit ihrer handfesten Arbeit "an der Front". Zum Beispiel die Stiftung Musiktherapie für Behinderte. Holtrup: "Mir wurde klar: Mit so einer Arbeit will ich mehr zu tun haben, als nur einmal Spendengeld zu überweisen." Wieso also nicht aus dem Kommerzprodukt "Screenflower" ein karitatives Projekt machen? "Careflower - Farbe bekennen": Den sechs Farben der Girlanden sollten sechs Hilfsorganisationen zugeordnet werden, die Hälfte des Erlöses in die entsprechenden Hilfsprojekte fließen, Business und Charity sich so verbinden. Ein gutes Geschäft zum Wohle Dritter. Zielgruppe: trendbewusste Menschen in den 30ern, die Spaß am Konsum, aber auch Sehnsucht nach sozialem Engagement haben. "Auch viele jüngere Menschen wollen soziale Projekte unterstützen", sagt der 36-Jährige, "haben jedoch nur begrenzte finanzielle Mittel, sind abgeschreckt vom umständlichen Spendenprozedere, können sich nur schwer für eine Organisation entscheiden, an die das Geld fließen soll, und wollen wissen, wo ihr Geld landet." Begeistert stürzen sich Holtrup und seine Mitstreiter in das Projekt. Einige kleine Spendenorganisationen sind interessiert.
"Dann hat uns die deutsche Seele geohrfeigt." Jochen Holtrup lehnt sich in der Sitzbank zurück, zieht die Brauen hoch, seufzt. Von allen Seiten prasselt Kritik auf die Careflower-Gründer. Ihr wollt nur Geld mit der Charity machen. Ihr nutzt sie aus, um euer Geschäft anzukurbeln. "Auf solche Vorwürfe hatten wir keinen Bock. Uns wurde klar: Entweder wir schaffen Careflower mit einer 100-Prozent-Spende oder wir stampfen es ein."

Verkaufen ohne Gewinn.

Seit Dezember 2005 ist Careflower online. Holtrup lenkt die Firmengeschicke von der grünen Wiese, aus Schwerte. Vor ihm das Ruhrtal, hinter ihm das Sauerland. Der Blick aus dem Fenster verliert sich über Hügeln, Feldern, Weiden. Ab und an treibt der Wind Stallgeruch herbei, in der Ferne brüllen die Kühe. Eine gewaltige Durststrecke liegt hinter ihm. Eine Zeit, in der er sich mit ganzer Kraft in sein neues Projekt gekniet hat. Er beschäftigte sich mit Social Entrepreneurship, besuchte Kongresse, schrieb Verbände an, suchte Kontakt zu Experten. Er verfolgte die Wertschöpfungskette von Produkten vom Hersteller bis zum Käufer. Wo ließ sich sparen? Dann hatte er es: Wieso verzichten wir als Onlinehändler nicht auf 100 Prozent unserer Handelsmarge? Das hatte es noch nicht gegeben. Niemand würde Careflower vorwerfen können, mit Charity Geschäfte machen zu wollen. Und wieso lassen wir dieses Geld nicht gleich über einen Treuhandpartner laufen, der es an die gemeinnützigen Organisationen weiterleitet? Dann wären sie gegen jeden Vorwurf gefeit.
Holtrup machte sich an die Arbeit, gewann neue Firmen für das Projekt, die sich mit ihren Produkten gerne beteiligten und zum trendigen Profil passten. Er köderte sie mit einem schlagenden Argument: Imagegewinn. Denn nicht nur Careflower verzichtet vollständig auf einen Gewinn, auch einige Hersteller geben ihre Produkte zu einem reduzierten Preis heraus. Damit lassen sich Kunden beeindrucken. Acht Trendlabels sind mittlerweile im Boot - von Yokozuna über Kippiperls und Moebus bis Holy Bikes. Die Abwicklung der Spendenflüsse übernehmen Rechtsanwalt, Steuerberater und die GLS Bank für Gemeinnützigkeit in Bochum. Holtrup hat es gelernt, sich nicht abwimmeln zu lassen. Er versteht es, den Gesprächspartner zu packen, zu halten, zu überzeugen. Und lässt nie eine glückliche Chance ungenutzt. Wie die renommierte Ex-Weltbänkerin Maritta von Bieberstein Koch-Weser von der international anerkannten Organisation GEXSI (Global Exchange für Social Investment), die er zufällig auf ihrem Handy erwischte - aber dann sofort zu fesseln verstand. Heute übernimmt sie Auswahl und Prüfung der geeigneten Hilfsorganisationen für Careflower.
Zum Start hat sie sich für drei Kinder- und Jugendprojekte entschieden: Kindness for Kids aus München (Stiftung für Kinder mit seltenen Erkrankungen), Paz y Bien aus Kolumbien (Betreuung und Lebensgestaltung von Flüchtlingen) und der Gemeinschaftsverein Monte Azul aus Brasilien (integrative Sozialarbeit in drei Armutsvierteln in São Paulo). Projekte aus Ökologie, Völkerverständigung und Tierschutz sollen folgen.
Jochen Holtrup lebt mit Haut und Haaren für Careflower. Seinen alten Job hat er aufgegeben. Er setzt auf Einkünfte aus dem Charity-Projekt. Denn auch wenn Careflower direkt keine Gewinne macht, will das Team langfristig nicht alles ehrenamtlich machen. "Careflower ist eine Imageleistung für die Firmen, die sich beteiligen", sagt Holtrup. "Auf Dauer möchten wir, dass uns die Firmen für diese PR bezahlen." Dann werden auch seine Partner mit ganzer Arbeitskraft in das Projekt einsteigen.
Dieser Tage ist Holtrup auf Vermarktungstour. Pressetermine, Investorensuche, Öffentlichkeitsarbeit. Für ihn geht es bei Careflower auch nicht mehr nur um sich und seinen Wunsch, die Welt zu verändern. "Ich sehe mich als technischer Arm einer Bewegung. Careflower ist Ausdruck meiner Generation, die den Konsum liebt und sich trotzdem nach Sinn, Werten und sozialem Engagement sehnt - und beides verbinden möchte." Holtrup streift die Antiklederjacke über, wickelt den beigen Strickschal um und zieht den Kragen hoch. Die Eisblumen krallen sich an die Fenster des L'Art. Knirschend gleiten die Autos über den Großstadtschnee. Jetzt geht es weiter, zum nächsten Termin. Es hat minus 15 Grad. Das kann einen wie Holtrup nicht schrecken.

Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.

Mit einer Illustration von Limo Lechner.

www.careflower.org
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