Süddeutsche Zeitung
Süddeutsche Zeitung FEUILLETON Dienstag,
24. August 2004
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Wo liegt der tiefste Punkt?

Ankunft in der Katastrophe: Vom Schrumpfen der Städte

Dort, wo Berlin erfrischend urban wirkt, in den Kunst-Werken in der Auguststraße, wird am 4. September, der erste Teil der Ausstellung „Schrumpfende Städte“ eröffnet. Das wichtigste Projekt der Kulturstiftung des Bundes zeigt dann die Ergebnisse zweijähriger Arbeit, und wir werden Gelegenheit haben, gut informiert über unsere Ratlosigkeit zu sprechen. Schrumpfung, ein oft endgültiges Wenigerwerden, hat üblicherweise nur in den Horrorecken unseres Weltbilds einen Platz. Der junge Architekt Philipp Oswalt, der das Initiativprojekt leitet, spricht vom Ende einer Epoche. Nach zweihundert Jahren schien Wachstum eine Selbstverständlichkeit geworden. Damit ist es in vielen Regionen erst einmal vorbei. Weltweit sind in den vergangenen fünfzig Jahren 400 Großstädte nachhaltig geschrumpft. Dass in Ostdeutschland 1,3 Millionen Wohnungen leer stehen, dass die Abwanderung aus den neuen Ländern anhält, dass hier – scharf und deutlich – Vergreisung, Verarmung und Verblödung – drohen, hat sich herumgesprochen. Oswalt sieht darin eine Herausforderung, Neues zu erproben. So wie die klassische architektonische Moderne einst mit der Suche nach Alternativen zu miserablen Wohnbedingungen begann, so geht es heute um die Gestaltung der Schrumpfung, um den organisierten, von avantgardistischen Sentimentalitäten und zynischen Wegwerfgesten gleichermaßen freien Abschied vom Wachstum. Es ist die Lebensaufgabe der heute 35jährigen.

Ein Ziel der Ausstellung ist es zu informieren, denn wir wissen erstaunlich wenig über Schrumpfungsprozesse. Verglichen werden vier Städte und Regionen: Detroit, Manchester/Liverpool, Ivanovo und Halle/Leipzig. Jede dieser Städte erfährt die Schrumpfung auf eigene Weise. In Detroit leben etwa achtzig Prozent der Bevölkerung inzwischen in den Suburbs, und man hat begonnen, selbst die Toten aus der Innenstadt umzubetten.

Vitalität der Verzweiflung

Manchester und Liverpool sind ein Opfer der Deindustrialisierung. Hier beherrscht, so Oswalt, eine paranoide Angst vor Kriminalität den öffentlichen Raum. Es gibt extreme soziale Unterschiede. Ivanovo, einst ein Zentrum der russischen Textilindustrie bietet heute das Beispiel einer Schrumpfung ohne Wohnungsleerstand. Das Fehlen ausreichender Sozialleistungen und ein gewaltiger Druck im Kampf um die tägliche Existenz haben hier zu einer „Vitalität der Verzweiflung“ geführt.

Das Schrumpfen in Ostdeutschland zeichnet sich nach Oswalts Beobachtungen durch die ungeheure Geschwindigkeit aus, mit der hier die Deindustrialisierung vonstatten ging. Auch herrsche eine sonst nirgends in solcher Intensität anzutreffende Apathie. Und es fehlt Vandalismus in größerem Stil. In der Wirklichkeit wie in der Wahrnehmung der Bewohner sind viele Regionen des Ostens an den Rand gedrängt. Man spricht von „Peripherisierung“.

Lange Zeit wurden Anzeichen der Schrumpfung in Deutschland ignoriert. Erst die Sorgen der Wohnungswirtschaft, die sich einem Überangebot gegenübersah, haben dem Thema Aufmerksamkeit gesichert. 1998 wurde eine Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ gegründet. Kurz darauf wurde mit dem Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ ein Maßnahmenplan beschlossen, der den ersatzlosen Abriss von Wohnungen subventioniert: Rund 2,5 Milliarden Euro stehen zur Verfügung. Mehr als 260 ostdeutsche Kommunen beteiligen sich, weit über 60000 Wohnungen wurden inzwischen abgerissen. Und das war erst ein bescheidener Anfang.

Aus dem Unverständnis und dem Ärger darüber, dass Schrumpfung vordringlich als Problem der Wohnungswirtschaft behandelt wird, dem man mit Abriss begegnet, beziehen viele Mitarbeiter des Projektes „Schrumpfende Städte“ ihre Energie. Was Schrumpfen tatsächlich heißt, wie komplex der Vorgang ist, darüber kann sich seit wenigen Tagen jeder in einer Fallstudie zum Thema informieren, die Sigrun Kabisch, Matthias Bernt und Andreas Peter am Umweltforschungszentrum Leipzig–Halle erarbeitet haben („Stadtumbau unter Schrumpfungsbedingungen. Eine sozialwissenschaftliche Fallstudie“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004). Die Studie, die erste ihrer Art, ist ein knapper, gut lesbarer Roman ostdeutschen Abstiegs geworden, erzählt am Beispiel der Stadt Weißwasser, jenem Dorf inmitten der Muskauer Heide (Sachsen), aus dem durch zwei Industrialisierungswellen, eine um 1900 und eine zu DDR-Zeiten, eine Industriestadt wurde. Glaserzeugung, Braunkohleabbau und das nahe gelegene Kraftwerk Boxberg nährten die Einwohner: 1987 waren es 37400. 67 Prozent von ihnen lebten im Stadtteil Weißwasser Süd, in Wohnvierteln, die ausschließlich in Plattenbauweise errichtet wurden.

Heute gehört Weißwasser zu den zehn am stärksten vom Bevölkerungsrückgang betroffenen Städten Ostdeutschlands. Ein Drittel der Weißwasseraner ist schon fort. Jedes Jahr suchen vier Prozent der Bewohner das Weite und ihr Heil woanders. Die Geburtenrate bleibt niedriger als durchschnittlich in Sachsen. Die Arbeitslosenquote lag zur Jahrtausendwende bei rund 22 Prozent. Man kann hier den Teufelskreis studieren, eine Krisenspirale, aus der es kein Entrinnen gibt. Das Fazit der Studie ist eindeutig: „Sowohl ein Ende der Abwanderung als auch eine ausgeglichene natürliche Bevölkerungsentwicklung sind nicht zu erwarten.“ Das hat Folgen für die lokale Wirtschaft, für den Immobilienmarkt und für Hypotheken, für den Kommunalhaushalt und das Lebensgefühl. Alle Akteure scheinen tendenziell überfordert.

Im Jahr 2000 begann man mit dem Abriss. Es ging nicht anders. Leerstand führt ja nicht allein zu Kosten für die Infrastruktur, denen keine Einnahmen gegenüberstehen. Versorgungssysteme in schrumpfenden Städten sind teuer und vom Kollaps bedroht.

In den Plattenbausiedlungen wohnten etwa gleichaltrige Arbeiter und Angestellte. Die klassische, belebende Vielfalt der Stadt fehlte, dafür gab es ein gut funktionierendes System kultureller Versorgung. Dieses ist nun weitgehend verschwunden. Die soziale Homogenität scheint geblieben, aufgelockert nur von Aussiedlern aus Russland, die nach Weißwasser verwiesen worden. Das Zusammenleben ist konfliktreich.

Junge Familien fehlen, jene, die heute in Rente sind, verfügen über ein vergleichsweise gutes Einkommen. Aber ihnen werden demnächst Kohorten ärmerer Rentner folgen: jene, die 1989 zu alt waren, um von der Fülle der Möglichkeiten zu profitieren, die von ABM zu ABM geschleppt wurden und mit lediglich geringen Alterseinkommen rechnen können. Man fragt sich, ob der Begriff der Schrumpfung, der suggeriert es handele sich um einen gleichsam naturgeschichtlichen Prozess, nicht beschönigt: Im Falle Weißwassers handelt es sich um den Zusammenbruch einer Welt, es ist eine Katastrophe, die von den Bewohnern überwiegend als Verlust, als verhängtes Schicksal und als „kollektive Ungerechtigkeit“ empfunden wird. Es kommt zu jener „kognitiven Einigelung“, in der Apathie und Trostlosigkeit dominieren. Abriss muss daher mit Verbesserungen in den Lebensbedingungen und mit einer Aktivierung der Bewohner einhergehen.

Schließlich hat sich auch der Charakter der Viertel gewandelt: „Plattenbauviertel, die ursprünglich die Funktion einer Schlafstadt für vollzeitbeschäftigte Männer und Frauen hatten, werden nun von der Mehrheit der Bewohner ganztägig genutzt und zum Lebensmittelpunkt.“ Es wird Investitionen in Viertel geben müssen, die lediglich auf Zeit genutzt werden. Die Investitionen werden sich nicht rentieren, aber die Verpflichtung, für erträgliche Lebensverhältnisse zu sorgen, bleibt. Wie handelt man, wenn Erfolge im herkömmlichen Sinn nicht zu erreichen sind? Alles sollte getan werden, damit der Stadtumbau nicht als weiterer Schicksalsschlag erlitten wird. Man sollte versuchen, die Bewohner der Stadt als Herren ihres Lebens agieren zu lassen. Aber wie? Es ist unbekannt, ob und wann Weißwasser den Tiefpunkt erreicht und sich zu stabilisieren beginnt.

Ein Ergebnis des Projekts „Schrumpfende Städte“ ist, dass es keine „große Lösung“ gibt. Abschied also auch vom Glauben an die Planbarkeit Im September 2005 werden in Leipzig Vorschläge für Interventionen und Handlungskonzepte gezeigt. Die Schrumpfungsforschung, und das allein ist gewiss, bleibt eine Wachstumsbranche.

JENS BISKY

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