Naiv muß jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines. Seine Naivetät allein macht es zum Genie,
und, was es im Intellectuellen und Aesthetischen ist, kann es im Moralischen, nicht verleugnen.
Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit,
bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet,
geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmacks, in welchem,
wenn es nicht so klug ist, sie schon von Weitem zu vermeiden,
das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt wird...
Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger Weise auch ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen...
Wenn der Schulverstand, immer vor Irrthum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt,
hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu seyn, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen,
und dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schärfe nimmt,
so gibt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freien Umriß...
Fürchte dich nicht vor der Verwirrung außer dir, aber vor der Verwirrung in dir;
strebe nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einförmigkeit;
strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Thätigkeit.
aus: Naive und Sentimentalische Dichtung