"Was meine Mutter nicht offen aussprach, wurde von der trägen Istanbuler Bourgeoisie
und von Zeitungskolumnisten in dreister Schwarzseherei gerne so formuliert:
„Hier ist doch sowieso alles für die Katz.”
Dieser Pessimismus hatte natürlich mit dem „Hüzün”, dieser kollektiven Stimmung des Scheiterns, zu tun,
der einer ganzen Stadt die Willenskraft raubte.
Wenn man aber bedenkt, daß der Hüzün sich nicht zuletzt aus Armut und Verlust speiste, wie kam es dann, daß ausgerechnet unter den Wohlhabendsten diese Ansicht so weit verbreitet war?
Eventuell wohl, weil diese Leute ihren Reichtum dem Zufall verdankten. Um diesen Zufall zu kaschieren, eiferten sie westlichen Vorbildern nach, konnten aber selbst nichts leisten, was mit den brillanten Erzeugnissen der westlichen Zivilisation vergleichbar gewesen wäre, und gaben die Schuld daran jener pessimistischen, melancholischen Kultur, deren Schöpfer und Produkt sie waren.
Meine Mutter stand ihr Leben lang unter dem verhängnisvollen Einfluß bürgerlicher Bedenkenträgerei,
und es ist auch nicht zu leugnen, daß ihr Pessimismus eine gewisse Berechtigung hatte...
Aus dieser instinktiven Vorsicht, die ich so oft an meiner Mutter wahrnahm, erging unterschwellig ein
ständiger Appell an uns Kinder: „Seid normal, seid so wie die anderen, fallt ja nicht auf!", SZ, 13.10.06