"Unser Hirn ist erstens darauf spezialisiert, über andere Menschen und ihre Absichten nachzudenken und sie zu interpretieren – aber nicht über Ereignisse. Würde ein brutaler Diktator die Erderwärmung verursachen, stünde sie auf der Agenda ganz oben.
Zweitens berührt die Klimaerwärmung nicht unsere moralischen Empfindlichkeiten. Wenn Menschen sich beleidigt fühlen oder angewidert, handeln sie. Doch die Klimaerwärmung verletzt weder unser Schamgefühl noch unsere Glaubensvorstellungen, noch ekeln wir uns vor ihr.
Drittens bedroht die Klimaerwärmung zwar unsere Zukunft, aber die ist weit weg. Menschen, wie alle Säugetiere, reagieren zunächst auf eine „klare und eindeutige” Gefahr; aber die Fähigkeit, die fernere Zukunft so wie die Gegenwart zu behandeln, ist evolutionsgeschichtlich jung und wird noch geübt. Würde die Klimaerwärmung, meint Gilbert, uns hie und da ein Auge ausschlagen, hätten wir sie schon längst im Griff.
Und schließlich findet das Drama viel zu gemächlich statt für unsere Sinne. Die Temperaturen steigen zu langsam, der Meerwasserspiegel ebenso, die Orkane und Hurricanes nehmen nicht schnell genug zu. Wir können präzise auf kurzfristige heftige Veränderungen reagieren – aber nicht auf einen schleichenden Wandel wie die globale Erwärmung...
Wir anderen schauen zu und schieben die Verantwortung weiter – auf die Regierungen, die Konzerne, auf Amerika oder China. Auch für dieses Verhalten gibt es einen Namen: Zuschauereffekt. Wenn vor ihren Augen ein Verbrechen passiert, sind Menschen desto weniger einzuschreiten bereit, je mehr andere dabei sind. Jeder wartet darauf, dass der andere handelt. Man überträgt seine persönliche Verantwortung auf die Gemeinschaft. So wird manchmal ein gesamtes Kollektiv handlungsunfähig. Bis zum Kollaps", SZ, 18.11.06